Materialisierungsversuche eines immateriellen Weltkulturerbes

Werner-Christian Jung

Der Beitrag erschien – gekürzt, aber mit vielen Bildern der Ausstellung versehen – in „artem“ – dem regionalen Kunstmagazin für den Westerwald und angrenzende Regionen,
Ausgabe 5, 2023, S. 50ff, (vgl. www.artem-magazin.de )

F.W. Raiffeisen – Materialisierungsversuche eines immateriellen Weltkulturerbes

Brot muss geteilt werden

 

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein,

er stirbt sogar am Brot allein,

einen allgegenwärtigen, schrecklichen Tod,

den Tod am Brot allein, …

den furchtbaren Tod der Beziehungslosigkeit:

… für niemanden da sein

und von niemandem gebraucht werden…:

nicht mehr weinen

und nicht mehr beweint werden,

der schreckliche Tod am Brot allein.“

(Das Brot der Ermutigung – Gesammelte Werke, Band 8)

Dorothee Sölles Gedichtzeilen deuten an, was den vor 205 Jahren geborenen Sohn des Westerwaldes bewegte – und zwar materiell und ethisch.

Und das Kunstforum Westerwald, eine seit 30 Jahren bestehende Assoziation von etwa 30 Kunstschaffenden, hatte mit der Ausstellung „WIRzusammen – Eine künstlerische Annäherung“ im Sommer 2023 Resonanzen auf diesen Menschen, seine Ideen und Werke gegeben.

Raiffeisen brachte die ökonomisch Schwachen und die starken Brothabenden zusammen in eine auf Zukunft ausgerichtete Gemeinschaft – den „Brodverein“. Dieses neue „Wir“ aus Besitzenden und Verschuldeten war das Ferment für eine soziale Achtsamkeit, bei der Gebende und Nehmende einander vertrauen. Denn die In-Wert-Setzung der Schuldscheine beruhte doch allein auf der Annahme, dass das durch den Verein konstituierte „Wir“ tragfähig bleibt und sich als fruchtbar erweist.

Raiffeisens Plan ging auf. Das „Wir“ brachte reiche Ernte, ließ Schulden der Habenichtse schrumpfen und ermutigte beide, Darlehensgeber und -nehmer, in ihrem Handeln. Das neue „Wir“, die Mission Raiffeisens, erwies sich als leistungsstark. Mit dem Teilen wurden Glaube und Idee zur Tat.

 

Der Titel der Ausstellung im Kulturhaus Hamm (Sieg) war Programm: Die Fragen nach dem Wir und dem Zusammen hatten 16 Kulturschaffende aus dem Wirkungsraum Raiffeisens schöpferisch inspiriert. Schließlich wurden durch den Impuls ihrer Vorsitzenden, Helga Seelbach, Werke unterschiedlichster Techniken im Kulturhaus Hamm (Sieg), dem Geburtsort des Sozialreformers präsentiert. Aus der Vielfalt der Arbeiten je für sich die eine oder andere Aussage zu entschlüsseln, war für die überaus zahlreichen Gäste kein leichtes Unterfangen.

Das gemeinsame Vorhaben der Mitglieder des KuFos wurde dann selbst zu einem produktiven „WIRzusammen“ erlebt – ganz in der Spur Raiffeisens. Mit der Fokussierung auf das weltverändernde Ideen- und Lebenswerk dieses Westerwälders formten die Künstler:innen so etwas wie eine Genossenschaft auf Zeit. Ihr Ziel: das immaterielle Weltkulturerbe mit unterschiedlichen Ausdrucksmitteln zu materialisieren.

Ungeteiltes Brot wird hart

Ausstellungen verbindet etwas mit der Startphase von Genossenschaften: Als kommunikative Prozesse wirken sie so oder so auf alle Beteiligten ein. Sie finden in einem Mit- und Gegeneinander statt. Sie zielen auf das Ich und das Du, verändern bestenfalls beide und erzeugen auch neue Bilder vom Wir und von den Anderen.

So boten auch das Mit- und Gegeneinander der einzelnen Kunstobjekte und die unterschiedlichen „Sprechweisen“ der Kunstschaffenden reichlich Gelegenheiten, neue Zugänge zum „Wir“ und zum „Gemeinsam“ zu eröffnen.

Brot, das man nur für sich selbst behält, wird hart,“ sagt eine alte Weisheit. Und in diesem Sinne sind Kunstwerke auch Brot in der Hand des Künstlers, der Künstlerin, die geteilt werden müssen. Wo dies geschieht, da verschieben sich Grenzen zwischen Zusammen und Getrennt, manche fallen gar, werden überraschend umgedeutet oder ergeben neue Verbindungen, Strukturen, Spannungen, Einsprüche.

Grenzen provozieren Kontakt

Wir kennen das gerade aus ländlichen Räumen: In der warmen Jahreszeit erhöht sich die Kommunikationsfrequenz zwischen den Nachbarn – das sprichwörtliche Gespräch über den Gartenzaun hinweg. Gerade die Grenzmarkierung wird zum Begegnungsort und provoziert die Kommunikation der Verschiedenen. Da wird an die vorfindliche Welt angeknüpft, aber zugleich entstehen neue Be-Deutungen.

Jede Semiotisierung, also die Nutzung von Zeichen, etwa durch Formen und Farben, Wörter, Prozesse oder Materialien, eröffnet zugleich neue Deutungen in Zeit und Raum. Oft drängt ein Anliegen erst dadurch zur Wirklichkeit, dass es bei vielen Menschen Gehör findet und so zum

Handeln provoziert. In diesem Sinne barg auch das KuFo-Projekt „WIRzusammen“ Potenziale, neu auf die Leistung des Brodverein-Gründers zu schauen. Es ergaben sich vielstimmige, aber konzertierte Auseinandersetzungen und diverse zeichenhafte An-Deutungen – allesamt aus der Region!

Ein Kontrastprogramm zur vorherrschenden Hyperindividualisierung und der Furcht, „gewöhnlich“ zu sein – Tendenzen, die in der Kunstszene nicht unbekannt sein dürften! Und ein Widerspruch auch zu den sozialen Medien mit ihren überbordenden Tipps zur Flucht aus der Normalität hin zur Selbstoptimierung. Dabei gilt heute wie vor 200 Jahren, dass viele Alltagskompetente grenzüberwindend mehr erreichen können als ein einzelner Narziss, wenn sie nur für ein Projekt brennen.

Die bleiben nahbar

Das Kunstforum im Westerwald ist ein ländliches und kleines Forum, verglichen mit den finanzstarken Kunst-Organisationen in den urbanen Zentren. Aber der Wert dieser auf dem Land lebenden Künstler:innen-Vereinigung lässt sich nicht mit einem Zentrum-Peripherie-Vergleich ermessen. Denn sie weckt und bündelt künstlerische Potenziale des ländlichen Raums. Ihre Mitglieder tauchen nicht nur kometenhaft kurz zu kulturellen Großereignissen auf, sondern sind Bleibende vor Ort, beheimatet, im Alltag identifizierbar und zugehörig zu vielen Kollektiven (wie Familien, Vereinen, Nachbarschaften, Belegschaften und Konfessionen). 

Diese Multikollektivität jeder einzelnen Persönlichkeit bildet den Nährboden für gemeinsame Anliegen und Vernetzungen. Vertrauen wächst und stabilisiert sich vor allem über den persönlichen Kontakt. Die Nahbereiche des ländlichen Raums eröffnen in besonderer Weise Gelegenheiten zur leibhaftigen Begegnung und die Chance, die Kunstschaffenden zu ihren Kreationen zu befragen. Das wäre existenzielle Kommunikation zwischen Verschiedenen.

Und diese Gelegenheiten bot die Ausstellung am Geburtsort Raiffeisens: dialogisch einzelne Materialisierungen des immateriellen Weltkulturerbes zu entschlüsseln oder sich an ihnen zu reiben – so geschehen im Sommer 2023.

Kunst hält wach

Mit einer brennenden Erde drängt sich ein neues existenzielles Handlungsziel auf, das Raiffeisens Herausforderung übersteigt. Und diese Nothilfe kann nicht von Einzelnen oder als Wettbewerb zwischen ihnen angegangen werden. Nur als eine umspannende gemeinschaftliche Anstrengung wird sie Hoffnungszeichen setzen, auch wenn sie vor der eigenen Haustür beginnt: Was einer nicht schafft, schaffen viele.

Und hier kommt den Künstler:innen eine wesentliche Aufgabe zu: Denn Handlungsbereitschaft der Verschiedenen in Stadt und Land wird kaum durch eine digitale, vermeintlich eindeutige Sprache geweckt. Aber die Kunst kann, ähnlich wie die Religion, mit Metaphern die erlebten Differenzen zwischen Wirklichkeit und Vision wachhalten – um vom Wissen über das Wollen zum Handeln zu motivieren. Und die schleichenden oder manifesten Schädigungen der Lebensgrundlagen erfordern Einsprüche und solidarische Antworten!

Kunst als „Profession“, als Bekenntnis kann in der Nachfolge Raiffeisens die existenzielle, „Brot“ sichernde Dringlichkeit und Größe der Aufgabe ansprechen.

So lässt sich fragen: Zu welchen „Sprachen“ werden die Künstler:innen als Nachgeborene des Naturliebhabers Raiffeisen finden?

Und welche Rolle kann dabei das Kunstforums Westerwald mit seinem im ländlichen Kontext spielen?

Besiedeln die Mitglieder dazu künstlerisch alle ihre Spiel-Räume, also auch die „anderen“ oder auch als „authentisch“ benannten Orte jenseits der Kulturtempel?

Die Erinnerung an Raiffeisens schon errungenen Siege kann dabei vielleicht beflügelnd wirken – auf Bauernhöfen oder in aufgegebenen Geschäften, in Hausgärten, offenen Landschaften, Dorfkirchen oder auch ganzen Dörfern.

„WIRzusammen“ jedenfalls war viel mehr als ein Anfang!

  • Beitrags-Kategorie:Kunst